Nach dem weltweiten Erfolg von „Babel“ und dem polarisierenden „Yellowface“ hat R.F. Kuang mich mit ihrer unbestreitbaren Intelligenz und ihrem ambitionierten Storytelling bereits fest im Griff. Die Erwartungen an „Katabasis“ waren dementsprechend hoch – und wurden nach einer Lesung in Köln, bei der Kuang ihre faszinierende Ideenwelt lebendig werden ließ, noch einmal gesteigert. Die Frage war nur: Kann der Roman diesem enormen Vorschuss an Vertrauen gerecht werden?
Dark Academia trifft auf Die Göttliche Komödie: Eine Doktorarbeit für die Ewigkeit
Die Prämisse ist genial und typisch Kuang: Die Doktorandin Alice Law forscht an der Universität Cambridge im Fach Analytische Magie. Als ihr betreuender Professor, der brillante und gefürchtete Jacob Grimes, stirbt, sieht Alice ihre akademische Laufbahn in Gefahr. Ihre Lösung? Sie steigt in die Unterwelt hinab, um seine Seele zurückzuholen – nicht aus Trauer, sondern um ihr dringend benötigtes Empfehlungsschreiben zu sichern. An ihrer Seite ist ihr Konkurrent Peter Murdoch, mit dem sie eine komplexe Geschichte verbindet. Was folgt, ist eine Reise durch die acht Höfe der Hölle, die sich als bissige Satire auf den akademischen Betrieb entpuppt, in der die ewige Strafe darin besteht, an der never-ending Dissertation zu schreiben.
Eine intellektuelle Fundgrube mit sprachlichen Tücken
Kuang beweist auch hier ihre immense Belesenheit. Der Roman ist eine Fundgrube für Liebhaber:innender Mythologie, Philosophie und Literatur. Anspielungen auf Dante, Nietzsche, Proust und Borges sind geschickt in den Plot verwoben und machen die Lektüre zu einem intellektuellen Vergnügen. Die Idee, die Hölle als Spiegelbild der akademischen Welt zu entwerfen – bevölkert von eitlen, nach Anerkennung gierenden Seelen –, ist absolut bestechend und oftmals köstlich humorvoll.
Doch genau hier offenbart sich auch eine Schwäche: Die Dialoge, insbesondere die trocken-sarkastischen Wortwechsel zwischen Alice und Peter, verlieren manchmal an Biss. Vor allem aber leiden die Charaktere unter einer gewissen sprachlichen Uniformität; ob Cambridge-Student oder Höllenfürst, viele Figuren scheinen mit demselben intellektuellen, leicht zynischen Duktus zu sprechen. Eine stärkere Differenzierung hätte der Geschichte gutgetan.
Brillante Ideen, holprige Umsetzung
Während die erste Hälfte des Buches mit seinem akribischen Weltenbau und den theoretischen Exkursen zur Magie mich komplett in den Bann schlug, verliert der Roman in der zweiten Hälfte merklich an Fahrt. Die einzelnen Höfe der Hölle, anfangs voller origineller Details, wirken gegen Ende zunehmend profillos und werden wie auf einer Checkliste abgearbeitet. Die Motivation der Protagonisten, ihren Professor zu finden, schwankt und mit ihr die narrative Dringlichkeit. Die Beziehung zwischen Alice und Peter, die als „Rivals to Lovers“ angelegt ist, bleibt seltsam blass und undurchsichtig. Man fragt sich bis zum Schluss, was die beiden eigentlich miteinander verbindet – außer ihren akademischen Ehrgeiz.
Alice als Protagonistin wird ihrem Vorbild aus „Yellowface“ in puncto Unsympathie in nichts nach. Sie ist ein klassisches „pick-me-girl“, deren einziger Antrieb der Doktortitel zu sein scheint. Ihr rücksichtsloser Karrierismus mag als Kritik an der akademischen Welt intendiert sein, macht es aber schwer, eine emotionale Brücke zu ihr zu schlagen. Im Vergleich zu Leigh Bardugos „Hell Bent“, das ein ähnliches Szenario mit mehr Herz und glahafterer Charaktertiefe ausstattet, wirkt Alice motivationsschwach.
Fazit: Ein ambitionierter, aber unausgegorener Höllentrip
„Katabasis“ ist ohne Frage ein kluges Buch, das seine Leser:innen intellektuell fordert und mit einer Fülle an literarischen Anspielungen belohnt. Kuangs Kritik an der toxischen Seite des Wissenschaftsbetriebs ist messerscharf und oftmals sehr witzig. Als reine Idee ist der Roman ein Volltreffer.
Dennoch bleibt am Ende ein zwiespältiges Gefühl. So ganz hat „Katabasis“ die packende Tiefe und narrative Wucht von „Babel“ nicht erreicht. Es ist, als ob die akademische Theorie die emotionale Wahrheit der Geschichte manchmal erdrückt. Wer eine intellektuell anspruchsvolle Dark Academia erwartet, die mit Mythologie und Philosophie spielt, wird hier auf jeden Fall dennoch fündig. „Katabasis“ ist lohnenswert für alle, die sich gerne in den Abgründen des Wissens verlieren.
Eigenwerbung: Ich verlose eine gebundene, englische Ausgabe von dem Buch. Bis Freitag, 10. Oktober 2025, 12 Uhr, könnt ihr noch teilnehmen. Entweder auf Instagram oder Tiktok.
Bibliographisches zum Buch „Katabasis“
Erschienen im Deutschen bei Eichborn am 26.08.2025.
ISBN: 978-3-8479-0216-4
Umfang: 656 Seiten
Preis (Gebunden): 28,00 €
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